Stell Dir vor, es ist Fête de la Musique und keiner geht hin. (Weil die Fête an einem Dienstag war und uns keine, wirklich keine Gruppe etwas sagte.) Stell dir vor, es ist verkaufsoffener Sonntag und keiner geht hin. (Weil es schlichtweg nicht kommuniziert wurde, dass die Geschäfte offen sind.) Stell dir vor, es ist Documenta in Kassel und keiner geht hin.
Das kann passieren. Gerade tobt die Debatte um den Antisemitismus der 15ten Documenta, ums Kuratorenteam, um das, woraus die Documenta dieses Mal besteht. Was das ist? Die Sondersendung im Fernsehen gibt Aufklärung: "Die Documenta ist kein fertig eingerichteter Kunstsupermarkt, sondern ein lebendiger, sich ständig neu organisierender, erfindender Organismus, bestehend aus verschiedenen Kollektiven." Ziel der Documenta sei "das Teilen von Wissen, Fähigkeiten, Möglichem, damit die Kunst zur Triebfeder für alle werden kann, zu einem sich selbständig vergrößernden, verstärkenden Organismus, der sinnvolle Tätigkeiten generiert und so Lebensglück provoziert. Gemeinsame Kunst als Überlebensstrategie und als echte Perspektive für Orte der scheinbaren Hoffnungslosigkeit."
Dieser Organismus hat antisemitische Bezüge erst zugelassen, dann überklebt, dann entfernt, darunter ... SS-Runen? Ich dachte, diese Symbolik sei verboten? Rassismus, Antisemitismus, Nazi - das gehört sich nicht in unserem Land. Auch nicht, wenn es in Filmchen verpackt und als Kunst deklariert wird. Das ist keine Kunst.
Auf der diesjährigen Documenta soll es nur wenige Objekte geben, denn es soll ja miteinander in Gedankenaustausche gegangen werden, das sei der künstlerische Prozess heißt es. Ich dagegen mag es, wenn es etwas zum Anschauen und Begreifen gibt, dingliche Dinge, die ich hinterher in mein Gedächtnis rufen kann und visualisieren und erinnern.
Ich war 1977 das erste Mal auf der Documenta, das war die Sechste, damals fuhr die gesamte Oberstufe der Schule und wir sahen uns den senkrechten Kilometer an und den überdimensionalen Bilderrahmen "Rahmenbau" und beides steht heute noch. Und seitdem verteidige ich Moderne Kunst gegen alle Anfeindungen wie "Ist das Kunst oder kann das weg", "Das kann ich auch", "Wieso soll das Kunst sein?".
30 Jahre später nahmen wir unsere Kinder mit zur 12ten Documenta, bei der liebte ich schon das Logo: die Zwölf als Strichzeichnung wie die Striche auf dem Bierdeckel - oder an der Gefängniswand. Die Mohnblumen, die auf dem großen Feld vor dem Fridericianum blühen sollten, blüten nur vereinzelt, die Reisfelder waren gar nicht, die Türen des Aiweiwei waren als Turm im Sturm zusammengebrochen. Es gab eine genähte Giraffe in Echt-Größe und Masken aus alten Kanistern. Es gab viele Besucher, die ganz in schwarz gekleidet waren und sich sehr künstlerisch und hip fanden, schwarze Rollkragen und schwarze Kleider, die schwere Documenta-Taschen mit dem teuren Ausstellungskatalog schleppten. Es war warm, Sonne pur und die Kinder langweilten sich: Wo ist die Kunst? Das ist ein Plüschtier und keine Kunst, das ist ein Blumenbeet und keine Kunst.
Apropos: Es gibt heuer wieder Blumen, sogar schwimmende Gärten, "Future Gardens" und "Healing Gardens", die von Bürgern Kassels betreut werden, die dafür in Interaktion mit den Pflanzen treten und das ist dann der künstlerische Prozess. Es gibt auch Riesenschnecken, die Art ist invasiv in Thailand, die ein Symbol darstellen für Kolonialismus und der Schleim eine Metapher für den Expansionsweg des Imperialismus, das Entfernen des Schleims mit Hilfe des Papier-Maulbeerbaums für die Entkolonialisierung. Das dazugehörende Boot in Schneckenform symbolisiert die Einwanderungswege der Schnecke und dümpelt nett auf der Fulda.
Mir reicht die Interaktion mit den Gewächsen meines Vorgartens als Statement meines künstlerischen Ausdrucks vorerst und mein künstlerischer Anspruch muss sich nun im hinteren Gartenteil Bahn brechen und interagieren. Mal sehen, was die große Weinbergschnecke im Rosenbeet dazu meint.