Als wir den Haushalt der Tante auflösen mussten und den Wohnzimmerschrank ausräumten, tauchte er auf. Er war etwas zerknittert und platt gedrückt und fast, aber nur fast, hätten wir ihn mit dem Altpapier weggeworfen.
Ich hielt ihn in der Hand, den kleinen Kerzenleuchter, und dachte, wie ist das?
Wenn du grade mal 20 bist und nichts hast, wenn der Krieg eben vorbei ist, wenn du fliehen musstest und nur noch das hast, was zufällig in deiner Handtasche steckte, wenn dir jemand ein Nachthemd für die Nächte geschenkt hat und die Seife und das Handtuch und überhaupt das Nötigste und wenn dann Weihnachten kommt. Wie ist das? Deine Eltern sind auf der Flucht erschossen worden, aber das weißt du noch nicht, deine Brüder sind vermisst, einer gefangen, einer tot, aber das weißt du auch noch nicht. Und du bist allein. Und trotzdem kommt Weihnachten und es wird völlig anders sein als alle Weihnachten zuvor. Und dann nimmst du ein Stück Bastelpapier und faltest einen Kerzenleuchter und nimmst eine Reißzwecke und steckst sie durch das Papier als Dorn für die Kerze. Und jemand schenkt dir eine Kerze.
Und es wird Licht. Und Weihnachten.
Und darum steht nun dieser kleine Kerzenleuchter gut behütet bei uns und zu Weihnachten leuchtet seine Kerze und erinnert uns daran, dass es an Weihnachten nicht um materielle Dinge geht.
Unsere Tante und Freundin floh Anfang 1945 mit einem Fahrrad von Karwitz in Pommern nach Schleswig-Holstein. Sie wurde 92 Jahre alt.